Runde Sache

Radrennfahrer Eddy Merckx war und bleibt, selbst im Ruhestand, die Nummer Eins – weil er niemals zurückblickt

Irgendwie ist er der Inbegriff von Coolness. Auf wilde und unkonventionelle Art attraktiv, wie der Star aus einem längst vergessenen Truffaut-Film über Radrennen, mit einer lässigen Radfahrerkappe, den kurzen Schirm heruntergeklappt, und einer dunklen Sonnenbrille, schiebt er sein weißes Rennrad durch die französische Landschaft. Die angedeuteten Koteletten, leichten Bartstoppeln und die rundliche, unauffällige Nase unterstreichen den für ihn typischen ernsten Gesichtsausdruck. Ein entschlossener aber eher düsterer Blick, der im Kontrast zur sonnigen Umgebung steht.

Und dann, natürlich, ist da dieses gelbe Trikot.

Wir schreiben das Jahr 1970, und Merckx gibt während eines Rennens ein Fernsehinterview – im Grunde könnte es aber auch jedes beliebige Jahr zwischen 1969 und 1975 gewesen sein. Denn Eddy Merckx trug das prestigeträchtige gelbe Trikot des Führenden häufiger (96 Tage) als jeder andere Radrennfahrer in der Geschichte der Tour de France. Insgesamt feierte er 34 Etappensiege und bisher unübertroffene fünf Tour-Gesamtsiege. Er ist vermutlich der größte Radrennfahrer aller Zeiten und ganz sicher der Größte seiner Zeit; einer Ära bevor systematische chemische Leistungssteigerung alles in Frage stellte. „Zu unserer Zeit waren wir Profis mit dem Herzen eines Amateurs“, sagte er einmal. „Heute sind alle Profis und mit dem Herzen eines Profis ausgestattet.“

Er war ein unerbittlicher Radrennfahrer, dessen Hingabe ihm den Spitznamen „Kannibale“ einbrachte. Während sich seine Rivalen ab und zu mal schonten und von den Strapazen erholten (und anderen Fahrern – gemäß der üblichen Radsport-Etikette – den Etappensieg überließen, so lange ihre Gesamtwertung damit nicht gefährdet wurde), gab Merckx immer alles, vom Start bis zum Ziel. Ähnlich wie Babe Ruth oder Michael Jordan dominierte Merckx nicht nur seinen Sport, sondern transformierte ihn, indem er ihn in die Zukunft katapultierte und Rekorde aufstellte, die über Jahrzehnte hinweg Bestand hatten.

Trotzdem ist es ein Spitzname, der nur bedingt passte. Denn er war alles andere als ein Schurke; er war ein Held, ein Mann, der selbst sein schärfster Kritiker war. „Ich liebe es zu gewinnen“, sagte er während der Tour de France 1970 – auf dem Weg zu seinem zweiten von vier aufeinanderfolgenden Tour-Siegen – in einem Interview. „Ich glaube, ich habe das Recht, hart zu mir selbst und zu anderen zu sein.“

Seine Geschichte begann 1945 in einer belgischen Kleinstadt. Edouard Louis Joseph Merckx wurde als Sohn eines Lebensmittelhändlers geboren. An die Gründe, weshalb er mit dem Radsport begann, kann er sich nicht mehr erinnern. „Radsport ist eine Passion“, sagte er kürzlich in einem Interview. „Schon als Kind träumte ich davon, Radrennfahrer zu werden – während der Schulferien spielte ich draußen Tour de France. Warum? Niemand in meiner Familie war Radrennfahrer. Warum werden manche Menschen Priester? Ich wollte einfach Radrennfahrer sein, warum wusste ich nicht.“

Was auch immer die Gründe waren, er hatte schnell Erfolg und gewann bereits im Alter von 19 Jahren die Straßen-Weltmeisterschaft der Amateure. Im folgenden Jahr, 1966, wurde er Profi und tat sich (wieder) hervor – dieses Mal als Sieger des prestigeträchtigen Rennens Mailand-San Remo. Es war ein vielversprechender Start in eine unvergleichliche Karriere. Am Ende gewann er unglaubliche 35 Prozent der mehr als 1.400 Rennen seiner Karriere.
                            Eddy Merckx im Jahr 1973
Eddy Merckx im Jahr 1973

Bei großen Rennen war er besonders hartnäckig, und die Liste seiner Erfolge konnte bisher von keinem anderen Fahrer übertroffen werden: Da sind die bereits erwähnten fünf Tour-Siege; fünf Mal gewann er den Giro d‘Italia und 19 Mal gewann er die sogenannten „Fünf Monumente des Radsports“ (Mailand-San Remo, Flandern-Rundfahrt, Paris-Roubaix, Lüttich-Bastogne-Lüttich, Lombardei-Rundfahrt), wobei der jedes dieser Eintagesrennen mindestens zwei Mal gewann. Das Gesamtergebnis in Zahlen? Er gewann 525 Rennen, davon 445 als Profi. Dieser Rekord scheint schier unerreichbar, ähnlich wie, sagen wir, der von Wayne Gretzky mit 2.857 Karrierepunkten in der NHL oder wie die 511 gewonnenen Spiele des Baseball-Profis Cy Young.

Und all dies hat er geschafft, bevor er 1978 im reifen Alter von 32 Jahren seine Karriere beendete. Er gewann mit einer solchen Selbstverständlichkeit Titel um Titel, dass es manchen unbegreiflich, gar unwirklich erschien. Aber genau diese coole Art verlieh ihm einen Hauch von Glamour – vor allem in den rot-weißen Faema- oder orange-schwarzen Molteni-Trikots. Diese trug er immer dann, wenn er ausnahmsweise mal nicht in Gelb unterwegs war.

Tiefpunkte hatte er im Laufe seiner Karriere allerdings auch. 1969 während eines Steherrennens (ein Bahnrennen, bei dem der Radrennfahrer einem Schrittmacher auf einem Motorrad hinterherfährt) stürzte vor ihm ein Gegner und brachte Merckx und seinen Schrittmacher ebenfalls zu Fall. Er trug bei dem Unfall eine Rückenwirbelfraktur und eine Verletzung im Beckenbereich davon. Sein Schrittmacher starb tragischerweise noch an der Unfallstelle. Merckx sagte selber, er sei danach nie wieder derselbe gewesen. (Obwohl einige seiner größten Erfolge noch vor ihm lagen.)
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Seine gesamte Karriere hindurch bewahrte er stets seine Fassung und verhielt sich stets respektvoll. Während der Tour 1971 lag er mehr als sieben Minuten hinter Luis Ocaña, einem der besseren Radsportler seiner Generation, zurück. Während der 14. Etappe stürzte Ocuña und musste schließlich aus dem Rennen ausscheiden. Aus Respekt vor seinem gestürzten Rivalen, lehnte es Merckx am nächsten Tag ab, das gelbe Trikot zu tragen. Die Geste zeigte den wahren Geist des vermeintlichen „Kannibalen“.

Heute, vierzig Jahre später, vertreibt er seine eigenen Rennräder. Er ist nach wie vor aktiv und nimmt an Benefizrennen teil (und fährt mit einigen seiner früheren Konkurrenten mit dem Rad ins Café). Ganz der Rennfahrer vertritt er die Philosophie, niemals zurückzublicken. „Ich bin nicht besonders nostalgisch veranlagt“, sagte er kürzlich. „Ich weiß noch wie es war, 15 Jahre alt zu sein und Radprofi werden zu wollen. Es war eine wirklich schöne Zeit in meinem Leben. Aber sie ist vorbei.“ Und doch, der Mann – und seine Legende – leben fort.
Paul L. Underwood ist der ehemalige Executive Director von RalphLauren.com. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Austin, Texas.
  • Foto von Michel Ginfray/Sygma über Getty Images
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